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Mehraufwand ist kalkulierbar

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Mehraufwand ist kalkulierbar

ZEITWIRTSCHAFT – Gefahrgutprozesse sind zeitlich messbar. Und das müssen sie auch sein. Der Kostendruck in der Logistik verlangt nach einer effizienten und verlässlichen Berechnungsgrundlage.

Alles ist berechenbar, wenn man es nur will! Doch gilt das auch für Gefahrgutprozesse? Die Einsatzzeiten von Beschäftigten spielen besonders bei Logistikdienstleistern eine wichtige Rolle. Aber ist es möglich, auch Gefahrgutprozesse zeitlich zu erfassen und die damit verbundenen Kosten zu kalkulieren, bevor ein Logistikdienstleister einen Gefahrgutkunden annimmt?

Einführung: Kostendruck in der Logistik

Vor dem Hintergrund steigenden Kostendrucks in der Logistik setzen immer mehr Unternehmen Methoden der Zeitermittlung ein, um Verschwendung im Betrieb zu eliminieren. Da Gefahrgutprozesse in einigen Unternehmen einen wichtigen und zeitintensiven Teil der Logistik ausmachen, sind Zeitstudien erforderlich, um den Arbeitsaufwand und die zusätzlichen Kosten durch Gefahrgut zu bewerten. Häufig unterschätzen Logistikdienstleister jedoch den zeitlichen und finanziellen Aufwand. Um hier Abhilfe zu schaffen und dem Auftragnehmer eine nachvollziehbare Berechnungsgrundlage an die Hand zu geben, stehen verschiedene Zeitermittlungsmethoden zur Verfügung, auf die Methoden REFA und MTM soll hier eingegangen werden.  

Methoden der Zeitermittlung: REFA und MTM

Zu den bekanntesten Methoden der Zeitermittlung zählt die Zeitaufnahme nach REFA (Ermitteln von Sollzeiten durch Messen und Auswerten von Istzeiten mit Hilfe eines Zeitaufnahmegeräts). Die Zeitaufnahme nach REFA ist somit eine Methode zur zeitlichen Bewertung der aktuellen Situation. Sie benötigt ein existierendes Arbeitssystem. Eine andere bekannte Methode ist die Zeitermittlung nach MTM (Methods-Time Measurement, auch Methodenzeit-Messung). Diese ist ein Verfahren zur Analyse von Arbeitsabläufen und Ermittlung von Plan- und Vorgabezeiten. MTM fokussiert sich auf die SOLL-Situation, kann aber auch die IST-Situation ermitteln. Und bietet demnach bereits in der Planungsphase eine fundierte Analyse, also bevor das Arbeitssystem überhaupt existiert. Damit kann der Logistikdienstleister gerade bei der Planung von neuen Gefahrgutprozessen sämtliche gefahrgutrelevantem Tätigkeiten beschreiben und zeitlich bewerten, bevor er einen potenziellen Gefahrgutkunden annimmt und die Prozesse implementiert.

Die MTM-Prozessbausteinsysteme

Amerikanische Arbeitswissenschaftler arrangierten zu Beginn der 1940er-Jahre das Inventar an Bewegungselementen, aus denen manuelle Tätigkeiten zusammengesetzt sind, zu sogenannten Grundbewegungen. Für jede dieser Grundbewegungen wurde ein wissenschaftlich gesicherter und genormter Zeitwert ermittelt und in der heute noch gültigen MTM- 1-Normzeitwertkarte (MTM-Grundsystem) zusammengeführt. Später entstand dann eine Vielzahl an weiteren MTM-Prozessbausteinsystemen für den Einsatz in verschiedenen Industriezweigen und Branchen. Auch bei der Betrachtung von logistischen Prozessen, in die der Mensch operativ eingebunden ist, kann MTM – konkret das Prozessbausteinsystem MTM-Logistik (MTM-LOG) – zur Gestaltung produktiver und gesunder Arbeit beitragen. Das Prozessbausteinsystem MTM-LOG basiert auf den MTM-UAS (Universelles Analysier-System) Grundvorgängen, welche zu typischen Standardvorgängen in der Logistik, wie Kommissionieren, Transportieren, Verpacken oder Prüfen, zusammengefasst worden sind. Zur Analyse dieser typischen Abläufe ist die Datenkarte für Standardvorgänge in der Logistik (SVL) zu verwenden (siehe Bild 1, rechts). Die Datenkarte SVL deckt nur einen Teil von Logistiktätigkeiten ab, z. B. Tätigkeiten mit Flurförderzeugen und Kranen, Kartons handhaben usw. Für Tätigkeiten, die unter das Gefahrgutrecht fallen, sind ggf. eigene Bausteine mit MTM-LOG und/oder MTM-UAS zu kreieren.

Schulungen für eine korrekte Anwendung von MTM

Für die korrekte Anwendung von MTM-LOG ist eine zertifizierte Schulung in MTM-1 Base (eine Woche) und MTM-LOG (eine Woche) notwendig. Ohne gründliche Schulung führt die Anwendung der MTM-Prozessbausteine zu falschen Analyse-Ergebnissen. Darauf wird auf jeder Datenkarte der MTM ASSOCIATION e. V. extra hingewiesen. Ähnlich wie bei der Schulung zum Gefahrgutbeauftragten ist bei der MTM-Weiterbildung eine Mindestpunktzahl erforderlich. Allerdings reichen hier die 50 Prozent zum Bestehen nicht aus. Nach der Ausbildungs- und Prüfungsordnung der MTM ASSOCIATION e. V. werden 75 % gefordert. Ohne Kenntnis der Prozesssprache MTM und des Bausteinsystems MTM-LOG macht eine Anwendung in der Praxis jedoch keinen Sinn. Das folgende Praxisbeispiel soll zum besseren Verständnis beitragen und den konkreten Nutzen der MTM Anwendung verdeutlichen.

Bild 1: Ausschnitt aus der Datenkarte Standardvorgänge in der Logistik (SVL)
Bild 2: MTM-Analyse: Kennzeichnen und Verpacken eines Versandkartons mit UN 1263, Farbe, 3, umweltgefährdend. Der Gesamt-TMU am Boden des Formulars ergibt den Wert 935.

 Praxisbeispiel: Gefahrgut kennzeichnen

Ein Logistikdienstleister, der gewöhnlich kein Gefahrgut verpackt, möchte wissen, wie viel Mehraufwand das Verpacken von Gefahrgut darstellt. Der Mitarbeiter (Verpacker) des Logistikdienstleisters soll einen Gefahrgutkarton mit dem „Gefahrzettelmuster Nr. 3“ bezetteln und mit den Kennzeichen für „umweltgefährdend“, „UN 1263“ und zwei „Ausrichtungspfeilen“ kennzeichnen. Dazu liest er auf dem Computer, welche Gefahrzettel und Kennzeichen anzubringen sind und greift nacheinander nach dem Gefahrzettel und den Kennzeichen auf der Rolle. Der Mitarbeiter klebt die Kennzeichen auf eine Seite des Gefahrgutkartons – mit Ausnahme der Ausrichtungspfeile, die auf zwei gegenüberliegenden Seiten angebracht werden müssen. Das Bild 3 auf Seite 29 zeigt, wie das in der Praxis aussehen soll.

Für den regelmäßig unterwiesenen Verpacker nach Kapitel 1.3 ADR ist dies ein ganz normaler und verständlicher Arbeitsvorgang. Für die MTM-Zeitanalyse reichen diese Informationen jedoch nicht aus. Der MTM-Analytiker, der die Tätigkeit zeitlich bewerten soll, benötigt folgende zusätzliche Informationen, genannt Einflussgrößen:

  • Anzahl der Wörter/Codes, die erforderlich sind, um zu erfassen (zu lesen), welche Gefahrzettel und Kennzeichen erforderlich sind
  • Entfernungsbereich 2 (≤ 50 cm) oder 3 (> 50 cm und ≤ 80 cm)
  • Größe des Gefahrzettels und der Kennzeichen
  • Wie stehen Gefahrzettel/Kennzeichen zur Verfügung: auf Trägerfolie oder Spender?
  • Wie sind die Gefahrzettel anzubringen: genau oder ungefähr?
  • Welche Körperhaltungen spielen noch eine Rolle? Muss sich der Verpacker z. B. bücken?

Nach Ermittlung der Daten kann der MTM-Analytiker die MTM-Analyse durchführen. Dazu gibt es bei MTM spezielle Formblätter (siehe Bild 2 oben). Zuerst ist festzulegen, ob es sich um eine Planungsanalyse (kein bestehender Prozess) oder Ausführungsanalyse (bestehender Prozess) handelt. Weiter ist ein Code für die Tätigkeit festzulegen, welcher dann als neuer Prozessbaustein für komplexere Analysen genutzt werden kann. Die Abgrenzung der Tätigkeit wird durch den Inhalt wiedergegeben. Wichtig sind hier besonders der genaue Beginn und das genaue Ende der Tätigkeit, um andere Tätigkeiten abzugrenzen. Die Analyse erfolgt in TMU = Time Measurement Unit (Zeitmess-Einheit). Eine Sekunde entspricht 27,8 TMU oder umgekehrt: eine TMU entspricht 0,036 Sekunden.

Das Bild 2 links zeigt eine MTM-Analyse für das gefahrgutrechtliche Kennzeichnen und Bezetteln eines Versandstücks. Für die Analyse wurde nur die Datenkarte MTM-LOG (siehe Bild 1 auf Seite 27) verwendet, um das Praxisbeispiel nicht zu komplex darzustellen. Wie bereits erwähnt, sind bei ähnlichen Tätigkeiten gegebenenfalls unternehmensspezifische Prozessbausteine mittels MTM-LOG und/oder MTM-UAS zu entwickeln.

Erläuterung zur lfd. Nr. 1 bis 4 (Code „IALW“)

Die Information, welcher Gefahrzettel und welche Kennzeichen anzubringen sind, erhält der Verpacker durch eine Anzeige am Computer. Für das Lesen von Wörtern oder Codes gibt es beim Prozessbausteinsystem MTMLOG eine Datenkarte, welche den Zeitwert der Tätigkeit wiedergibt (siehe Bild 1 auf Seite 27). Für ein einzelnes Wort oder einen maximal sechsstelligen Code ist der Zeitwert einmal in die Analyse aufzunehmen. Ist der Text „1 × Kennzeichen Umweltgefährdend“ zu lesen, ist der Zeitwert 25/Code IALW folglich mal drei zu nehmen.

Erläuterung zur lfd. Nr. 5 bis 8 (Code „IAETG3“ und „IAETU3“)

Der „Gefahrzettel 3“ hat eine Mindestgröße von 100 × 100 mm und muss auf dem Versandkarton die Form eines auf die Spitze gestellten Quadrats (Raute) haben (Absatz 5.2.2.2.1.1.2 ADR). Die Mindestgröße 100 × 100 mm hat auch das Kennzeichen „umweltgefährdend“, welches analog die Form eines auf die Spitze gestellten Quadrats haben muss (Absatz 5.2.1.8.3 ADR). Für das Kennzeichen „UN 1263“ gibt es hinsichtlich der Größe des Kennzeichens keine Vorgaben, mit Ausnahme einer Zeichenhöhe von mindestens 12 mm bei einem Versandstück (hier: Karton) größer 30 kg oder L (Unterabschnitt 5.2.1.1 ADR). Das Kennzeichen „UN 1263“ hat im vorliegenden Fall eine Größe von 100 × 50 mm.

Das Kennzeichen für die „Ausrichtungspfeile“ ist auf zwei gegenüberliegenden Seiten des Versandstücks (hier: Karton) anzubringen und muss korrekt nach oben zeigen. Eine Mindestvorgabe hinsichtlich der Größe gibt es nicht. Allerdings müssen die Ausrichtungspfeile entsprechend der Größe des Versandstücks (hier: Karton) ausreichend sichtbar sein (Absatz 5.2.1.10.1 ADR). Im vorliegenden Fall haben die beiden Kennzeichen „Ausrichtungspfeile“ eine Größe von 105 × 74 mm. Der Entfernungsbereich zum Aufnehmen und Anbringen der Gefahrzettel und Kennzeichen liegt in allen Fällen zwischen > 50 cm und ≤ 80 cm. Für den MTM-Analytiker bedeutet dies Entfernungsbereich 3. Der Gefahrzettel und die Kennzeichen werden von einer Trägerfolie (Rolle) abgezogen, die Anbringung erfolgt ungefähr. Das bedeutet, dass keine genaue Positionierung auf dem Versandstück erforderlich ist. Beim Anbringen des „Gefahrzettels 3“ und des Kennzeichens „Umweltgefährdend“ ist die Anbringung genau, weil hier der Gefahrzettel bzw. das Kennzeichen in der Hand gedreht werden muss, damit es auf der Spitze stehend am Versandstück angebracht werden kann. Das Bild 3 rechts oben zeigt, wie der Versandkarton nach ADR zu kennzeichnen und zu bezetteln ist. Für das Anbringen von Etiketten (Gefahrzettel und Kennzeichen) gibt es bei MTM-LOG eine Datenkarte, welche den Zeitwert der Tätigkeit wiedergibt (siehe Bild 1 auf Seite 27). In Abhängigkeit von der Größe des Etiketts, der Platzierungsgenauigkeit und des Entfernungsbereiches zum Aufnehmen und Platzieren ist der entsprechende Code zu verwenden.

Erläuterung zur lfd. Nr. 9 (Code „KB“)

Für das Anbringen des Gefahrzettels und der vier Kennzeichen muss der Verpacker sich in Summe fünf Mal bücken und wieder aufrichten. Dieser Faktor muss ebenfalls in die Analyse einbezogen werden.

Ergebnis der MTM-Analyse und Fazit

Das Kennzeichnen und Bezetteln des Versandkartons mit „UN 1263“, „Gefahrzettel 3“, „Umweltgefährdend“ und „Ausrichtungspfeilen dauert 935 TMU, das entspricht 34 Sekunden. Der Verpacker hat in diesem Fall einen Zusatzaufwand von 34 Sekunden je Versandkarton gegenüber einer Sendung, die kein Gefahrgut enthält. Schaffen ein oder mehrere Verpacker beispielsweise 500 Versandkartons am Tag zu kennzeichnen und zu bezetteln, sind dies schon fast fünf Stunden Mehraufwand. Wird das Ergebnis dann noch mit 20 Arbeitstagen pro Monat multipliziert, liegt der Mehraufwand schon bei 100 Stunden.

Bild 3: Kennzeichnung und Bezettelung von UN 1263, 3, II, umweltgefährdend

Da der Logistikdienstleister in der Regel in seinen eigenen Gebäuden arbeitet, findet im Vorfeld bereits eine Gefahrgutbeförderung vom Hersteller zum Logistikdienstleister statt. Das bedeutet, die Versandstücke sind bereits gefahrgutrechtlich gekennzeichnet und bezettelt. Durch Kommissionierarbeiten, Umverpackungen, falsche oder beschädigte Gefahrzettel/ Kennzeichen kann es jedoch erneut zu Tätigkeiten bzgl. Kennzeichnen und Bezetteln kommen.

Es kann auch sein, dass ein Weitertransport per Schiff erfolgt. Neben dem ADR ist dann noch der IMDG-Code zu berücksichtigen. Der unterwiesene Verpacker gemäß Kapitel 1.3 IMDG-Code weiß, dass das Versandstück in Bild 3 dann noch zusätzlich mit dem richtigen technischen Namen (hier: „Farbe“) zu kennzeichnen ist. Es bleibt also in keinem Fall aus, das Versandstück auf richtige Kennzeichnung und Bezettelung zu überprüfen.

Nicht zu vergessen ist, dass es natürlich noch weitere gefahrgutrechtliche Tätigkeiten gibt, die ggf. erfasst werden müssen, wie z. B. die Erstellung von Beförderungspapieren oder Kontrollen vor und/oder nach Beladung anhand von Checklisten. Hinzu kommt noch das Gefahrenpotenzial von Gefahrgütern für die Beschäftigten und die Einhaltung von Lagervorschriften, sofern es sich bei dem Gefahrgut auch um einen Gefahrstoff handelt. Bußgelder bei der Lagerung oder beim Transport sind keine Seltenheit.

Fazit: Ein Logistikdienstleister sollte sich, bevor er einen Gefahrgutkunden annimmt, mit den gefahrgutrechtlichen Anforderungen vertraut machen und mittels einer MTM-Analyse den zusätzlichen Mehraufwand vorab kalkulieren. So lassen sich böse Überraschungen am Jahresende vermeiden.

Quelle: Magazin für die Gefahrgut-Logistik „Gefährliche Ladung 08/2024“
Autor: 
M. Sc. Christopher Ernst, Gefahrstoff und Gefahrgutexperte, Rhenus Warehousing Solutions Services GmbH & Co. KG

Für weitere Fragen zum Thema oder allg. zum Beratungsangebot der MTM-Organisation steht Ihnen André Graichen andre.graichen@mtm.org gern zur Verfügung.